Allgemein, Dorfleben, Spezielle Orte

Orte mit spannenden und persönlichen Geschichten: Der Aare-Raum

Ausgangspunkt dieses Beitrages ist das Stichwort ‘Aareinseln’ gewesen. Wegen Hochwassers konnten diese nicht betreten werden. Als Ersatz gab es einen winterlichen Spaziergang mit Stephan Fricker entlang der Aare. Dabei äusserte sich er über die Vielfalt und die daraus entstehende Faszination dieses Gebietes.

Stephan, wir stehen an der Aare; warum?
Sie ist hier renaturiert worden und damit hat alles sehr viel gewonnen. Alles ist viel lebendiger geworden.

Der Winter ist nicht unbedingt die Saison, sich an einem Fluss aufzuhalten.
Das ist egal. Spannend ist jedes Mal der Wechsel der Jahreszeiten, der Wasserstand, das Licht. Die Situation heute mit Schnee ist aber auch für mich eher ungewohnt. Grundsätzlich bin ich schon eher hier, wenn es warm und schön ist. Der Winter jetzt – ohne die Blätter an den Bäumen – gibt wieder andere Einblicke in Orte, die man sonst nicht sieht. Das ist auch spannend.

Was fällt dir zur Aare ein?
Die Aare als Fluss hat für mich höchstens die Bedeutung, dass ich einen Teil meiner Kindheit in Aarau und damit an der Aare verbracht habe. Mir spielt es aber keine Rolle, ob ich an der Aare, an einem anderen Fluss, an einem See oder am Meer bin; es ist mehr das Wasser und seine Natur, die mich anziehen.

Was bedeutet dir also Wasser?
Da zieht es mich hin – wegen der Stimmung, des Lichtwechsels und wegen der Dynamik, die ein Fluss auslöst. Das sind Faktoren, weshalb ich mich sehr gerne im und auf dem Wasser bewege.

Betreibst du Wassersport?
Sport ist für mich das Mittel zum Zweck, mich in der Natur zu bewegen und draussen sein zu können. Wenn man sich selbst bewegt, sei das zu Fuss, mit dem Velo oder mit einem Boot, nimmt man mit allen Sinnen viel mehr von der Umgebung wahr, das ist unglaublich spannend.

Wasser hat eine enorme Wucht, was man dem aktuellen Hochwasser ansehen kann; Wasser hat daher etwas sehr Unberechenbares.
Es ist wie überall, nimm die Berge: Man muss dem Element mit Respekt begegnen. Wasser ist kein Spielplatz! Es ist ein Ort, an den man sich langsam annähern muss, weil er gewisse Gefahren bergen kann. Ich bin kein Wasserspezialist, bin aber grundsätzlich vorsichtig. Wenn wir mit dem Kanadier unterwegs sind, erkundige ich im Voraus den Streckenabschnitt, habe die Sicherheitsausrüstung mit dabei und schaue auf den Wasserstand und das Wetter. Damit kann ich das Risiko minimieren und das Erlebnis wird auch nicht stressig.

Ein Fluss, das ist Dynamik. Diese Stelle sieht aktuell ganz anders als vor dem Hochwasser. Der Fluss hat die Ufer ausgeschwemmt, das Kies neu geordnet. Das Wasser hat vielleicht 5, vielleicht 6 Tonnen Erde mitgerissen. Dieses Wilde, das Ungezähmte ist wahnsinnig schön.
Im Moment ist die Wucht des Wassers wirklich enorm. Jetzt musst du extrem vorsichtig sein, sonst schwemmt es dich fort.

Habt ihr die Aare schon befahren?
Partiell schon; wir sind beispielsweise schon von Gretzenbach nach Brugg gefahren. Die ganze Aare zu befahren ist im Moment ncht das Ziel, aber eine Möglichkeit

Verglichen mit der ungezähmten Aare von Früher ist die Aare heute ein ‘braver’ Fluss.
Es ist eine Frage, wovon du ausgehst. Die Schwelliplatte war einfach Beton. Und wenn man jetzt den Seitenarm ansieht, wie sich der seit der Erstellung verändert hat, ist das gewaltig. Das ist vielleicht nicht unbedingt im Sinne der Erbauer. Aber das muss die Natur nicht unbedingt sein. Das Hochwasser trägt den Hummus ab und schichtet das Kies um und daraus entsteht dann wieder etwas Neues. Im Aare-Kanal drüben ist das eine ganz andere Situation

Durch die vorangegangenen Hochwasser hat man gesehen, dass man den Fluss nicht einfach beherrschen kann und hat ihm Platz gegeben. Ich finde es schön, dass man das gemacht hat. Es ist klar, dass man auf diesem Platz nicht anderes mehr machen kann; man kann keine Häuser darauf bauen oder Landwirtschaft betreiben; das ist jetzt ein Stück Brachland.


In der Schweiz wird viel für die Renaturierung der Flüsse getan.
Das ist so. Auch wenn man sieht, was an der Emme gemacht wird. Das macht man aber nicht einfach so, sondern man hat aus den Hochwassern aus der Vergangenheit gelernt.

Auf meinem Schulweg über den Steg bei der alten Stadtgärtnerei habe ich jeweils in die Aare geguckt und konnte nicht auf den Grund sehen, so schmutzig und trübe war das Wasser. Ich hatte das Gefühl, der Fluss sei mindestens 100 m tief und am Grund würden Monster leben. Zu dieser Zeit hat es in Aarau auch geheissen: ‘In die Aare kannst du nicht gehen, die ist dreckig!’ Und das war auch so. Heute kann man den Boden sehen und stellt fest, dass der Fluss gar nicht tief ist.
Bezüglich der Wasserqualität ist viel erreicht worden. Das Privileg, dass wir in den Flüssen schwimmen können, ist sehr hoch einzuschätzen, das ist nicht selbstverständlich.

Was macht der Biber wohl im Moment wegen des Hochwassers?
Ich weiss es nicht, aber ich denke, er kann mit solchen Situationen umgehen; er wird wohl einen Plan B haben.

Ist das jetzt deine ‘Insel’.

Das ist mein Plätzchen. Da kann man normalerweise hinüberlaufen, auf die warmen Steine sitzen und dem Wasserrauschen zuhören. Fürs Baden selber sind wir aber eher auf der Sandbank gegenüber des Ballyparkes. Oder dann schwimmen wir den Kanal vom Entennest bis Aarau hinab. Dieser Abschnitt wurde in den letzten Jahren immer beliebter und an warmen Sommerabenden herrscht da jeweils ein reges Treiben.

Ihr seid also in der Badi nicht anzutreffen?
Selten. Wenn schon baden, dann lieber in einem Fluss oder See, zum Beispiel im Hallwilersee oder im Sempachersee. Als Kind sind wir viel in der Badi gewesen, ich habe nichts dagegen. Aber da ist das Schwimmen und Baden von einer anderen Art.

Wie oft hältst du dich an der Aare auf?
Im Sommer bin ich sicher zweimal wöchentlich da. Ich bin aber nicht nur im Wasser, ich drehe entlang der Aare auch meinen Joggingrunden. Die eine ist hier, eine andere führt durch den Schönenwerder Wald zum Entennest. Da ist ein Seitenarm zur Aare am Entstehen. Im Sommer, wenn sehr warm ist, gehe ich in den Wald, ansonsten bin ich hier anzutreffen.

(Wir stehen auf der Cartaseta-Brücke und schauen ins Wasser, folgen ihm mit den Augen).

Das ist megaschön. Darum kann ich auch die Fischer verstehen, die einfach so am Ufer sitzen und den Moment geniessen können.

Fischen – ist das ein Ziel für dich?
Bis jetzt nicht – ich kann auch ohne das Fischen ruhig dasitzen.

Wirst du zum Philosophen, wenn du am Wasser sitzest und hineinschaust?
Nein. Das ist für mich ein Moment, wo ich an einem schönen Ort für mich sein kann. Ich würde dem assoziatives Geplänkel sagen, da ich mich nicht konkret mit etwas auseinandersetze. Aber ich kann einfach sein und herunterfahren. Das kann aber auch beim Laufen entlang der Aare geschehen – zusammen mit dem Wasserrauschen. Andere Menschen hören Musik oder schrauben am Auto herum, was auch cool ist. Aber für mich ist es die Natur und die Möglichkeit am Wasser zu sein.

Also bietet dir Wasser doch eine Art Meditation?
Absolut, aber ohne zielgerichtet zu sein. Es ist Erholung und die besteht darin, dass ich meinen Gedanken freien Lauf lassen und eventuell etwas aufarbeiten kann.

Für mich selbst merkte ich, dass ich kleine Inseln im Alltag brauche, wo ich mich vor der Haustüre erholen kann. Und auf meine ‘Insel’ in der Aare kann ich immer wieder zurückgehen und schauen, wie sie wieder neu aussieht; besonders jetzt nach der Renaturierung. Und auch die vielen verschiedenen Steine sind faszinierend.

Du bist Rettungssanitäter. Suchst du das Wasser nach schwierigen Situationen bewusst auf?
(Überlegt) Für mich ist es eher der Ausgleich für meine – wie man so schön auf Neudeutsch sagt – Work-Life-Balance. Es ist die Verabredung mit mir selbst. Das ist für mich sehr wertvoll. Und da hole ich mir auch wieder meine Energie.

Das könntest du doch alles auch im Wald haben?
Da bin ich auch und der ist auch wunderbar. Ich bin nicht auf das Wasser fixiert. Die Aare ist für uns aber nahe und es ist ein spannender, naturbelassener Lebensraum, der mich anzieht, weil er auf sehr engem Raum, sehr viel zu bieten hat.
Der Wald ist eher für den Sommer. In diesen düsteren Zeiten hat er etwas Bedrückendes an sich.

Der Gretzenbacherbach ist ja auch Wasser.
Den habe ich einmal mit unserem Sohn abgelaufen. Er wollte unbedingt wissen, woher er kommt.

Das Hochwasser hat das Ufer an etlichen Orten ausgespült und also Schäden verursacht.
Das sind nicht unbedingt Schäden. Es ist das Unordentliche der Natur und das ist gerade in der Schweiz oft schwer auszuhalten. Aber das ordnet sich irgendeinmal wieder. Wir waren einmal längere Zeit in Kanada unterwegs, unter anderem mit dem Kanu. Da ist die Natur viel stärker sich selbst überlassen. Irgendwo baut der Biber plötzlich einen Damm, überschwemmt das Gebiet und die Bäume sterben ab. Dann ordnet und entwickelt sich die Natur über einen längeren Zeitraum wieder neu, ohne dass der Mensch Hand anlegen muss.

Wie bist du zum Kanufahren gekommen?
Einen Teil meiner Jugend habe ich in Kanada verbracht und so habe ich Bezug zum Kanufahren bekommen. Hier ist das eine aufwändigere Sache, die man nicht husch husch macht. Deshalb haben wir ein Faltkanu, mit dem wir zwei bis dreimal im Jahr eine Tour auf einem Fluss oder einem See machen.
Neu haben wir auch ein Standup Paddle, das ist schon etwas Tolles. Stehend hat man schon wieder eine andere Perspektive.

Gehen die Kanadier mit Fliessgewässern – im Vergleich mit uns Schweizern – anders um?
Definitiv, weil die Verhältnisse anders sind – es hat weniger Menschen pro Quadratmeter und das hilft der Natur. Die Natur hat es im Schweizer Mittelland manchmal etwas schwer, da es dicht bevölkert ist. Und mit Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Wohnraum gibt es entsprechend viele Player, die sich den knappen Naturraum teilen müssen. Und unsere Gesellschaft ‘tickt’ auch sehr ökonomisch. Daraus ergeben sich immer wieder Spannungsfelder zu anderen Lebensräumen. Darum habe ich es toll gefunden, dass man zur Erkenntnis gekommen ist: Trotz aller technischen Einrichtungen kann man Flüsse nicht bändigen, sondern muss ihnen Platz einräumen. Und es ist beruhigend zu sehen, dass dem Menschen Grenzen gesetzt sind. Das Ganze ist am Schluss der Versuch eines Kompromisses. Ich hoffe einfach, dass dabei die Lebensräume für Tiere und Pflanzen nicht zu kurz kommen. Denn das hätte, davon bin ich überzeugt, mittel- bis langfristig auch negative Konsequenzen für uns Menschen. Und darum muss man auch bereit sein, Geld für den Schutz der Natur auszugeben.

Bisher sind in dieser Serie erschienen:

Reiseführer 111 Orte
Täfelibaum
Ballypark
Das Kreuz in der Weid
Der Rastplatz am Langmattrainweg
Der Ölihof

Ähnliche Artikel